Die Rettung der Bündner Oberländer Schafe

Hans-Peter Grünenfelder, Gründer von ProSpecieRara, erzählt, wie er im Frühjahr 1984 die letzten Bündner Oberländer Schafe aufspürte und damit den Grundstein für die Rettung der Rasse legte.

Hans-Peter Grünenfelder

Eines der 1984 geretteten Stammtiere der Bündner Oberländer Schafe.

Hans-Peter Grünenfelder

Wie die Tavetscherschafe einst aussahen, vermitteln Exponate im Bündner Naturmuseum in Chur.


«Eigentlicher Anlass zur Gründung der Stiftung ProSpecieRara war das Verschwinden der Freiburger Rinder, verdrängt durch die Holsteinrasse, und die Erkenntnis, dass dies in der Schweiz durchaus kein Einzelfall war. Im Hinterkopf wusste ich natürlich auch, dass bereits in den Fünfziger Jahren die eigentümlichen ziegenhörnigen Tavetscher- bzw. Nalpserschafe im Bündner Oberland ausgestorben waren. Professor Ernst Lang, damals Direktor des Zoologischen Gartens Basel, hatte sich noch um deren Erhaltung bemüht, musste dann seine Zuchtgruppe aber in den Tierpark Lange Erlen ins Asyl geben, da wegen Inzucht immer mehr Degenerationserscheinungen auftraten. War es eine fixe Idee oder mein Ego, der Welt zu beweisen, dass dennoch nicht alles verloren war?

Ich machte mich kundig. Jürg Paul Müller, der damalige Direktor des Bündner Naturmuseums zeigte mir die Stopfpräparate des alten Tavetscher Schafes und erzählte mir einiges über das Leben dieses absolut anspruchslosen Tieres. Auch von Nic Issler, dem damaligen Leiter Kleinviehzucht am Plantahof, erhielt ich zahlreiche weitere Informationen. Auch gefiel Nic die Idee, nach möglichen Relikten der alten Rasse zu suchen. Er anerbot sich, mich ins Oberland zu Schafbauern zu begleiten. Veterinär Monn von Disentis schlug uns vor, zur alljährlichen Gant bzw. „staatlichen Annahme (Aufkauf) von Schafen zur Entlastung der Berglandwirtschaft“ zu kommen. Am meisten Aussicht auf Erfolg hätten wir wahrscheinlich in Curaglia im Medels.

Rettung in letzter Sekunde
Also fuhren Nic und ich an besagtem Annahmetag nach Curaglia und trafen dort Veterinär Monn. Wegen der langen Anfahrt mit Kleinvieh- Anhänger (und meines nicht zu frühen Aufstehens…) trafen wir allerdings etwas spät in Curaglia ein. Der grösste Teil der Gant war schon vorbei. Auf meine Frage, ob denn vorher schon beispielsweise behornte Tiere gelaufen seien, lachten die Befragten: Ja, da gäbe es nicht mehr viele davon und die würden immer zuerst „eliminiert“. Diese seien schon längst in die in Disentis bereitstehenden Viehwagen der RhB verladen. Also nix wie runter zum Bahnhof.

Am Bahnhof konnten wir durch die Frischluftschlitze der Wagons lugen. Wagon eins bis drei nichts. Dann in Wagen vier, schon nicht mehr an der Rampe – wir mussten uns an der Wagenwand festklammern – ein wunderbares, behorntes Jungtier. Erregt liefen wir zum Bahnhofvorstand und – oh Wunder – der gab Befehl, die Wagen etwas zurück zu rollen, damit wir das Tier wieder ausladen konnten. Es war ein weibliches Tier, also musste noch ein Widder her. Wir entschieden uns für einen, der wenigstens einigermassen der alten Rasse glich. Voller Stolz, wenigstens einen Anfang gemacht zu haben, fuhr ich die Beute zu Bruno und Esther Bosshard ins Sarelli bei Bad Ragaz, die sich vorgängig als Aufnahmestation bereit erklärt hatten.

Müde, aber zufrieden kehrte ich nach St.Gallen zurück und erzählte von dem Abenteuer. Aber dann gab jemand zu bedenken, dass der Widder sicher schon kastriert zur Annahme gekommen sei, das sei doch so üblich. Das Herz in den Hosen telefonierte ich ins Sarelli. Esther ging in den Stall nachsehen. Zurück am Telefon fragte sie mich, ob ich sitze. Dann platzte sie los, beide Tiere seien weiblich! Uff, wir hatten also doppeltes Glück. Bei nächster Gelegenheit also nochmals nach Curaglia und freihändiger Kauf eines schönen, jungen und noch nicht kastrierten Widders. Die Zucht machte einen Anfang!

Von nun an war ich immer wieder Gast in Curaglia und es sprach sich herum, dass da so ein Spinner aus dem Unterland sei, der gerne die wertlosen alten Tiere aufkaufe. Bis Ende 1984 hatten wir vier Zuchtgruppen zusammen. Wir bekamen mit der Zeit immer schönere und der alten Rasse ähnlichere Tiere angeboten. Nur bei einem Züchter, der wohl mit die schönsten Tiere hatte, biss ich auf Granit. Nein, er verkaufe nicht, schon gar nicht an einen Unterländer (er dachte wohl, ich würde mir mit dem Handel im Unterland eine goldene Nase verdienen). Also schrieb ich ihm einen Brief, dass es toll sei, wenn er am Ursprungsort der Rasse selbst zu deren Erhaltung beitragen wolle. Ich offerierte ihm unsere Unterstützung beim züchterischen Austausch von geeigneten Widdern. Davon wollte er dann zwar nichts wissen, war aber ab sofort bereit, uns auch seine Auen für die Zucht zur Verfügung zu stellen.

Vom Tavetscher zum Bündner Oberländer Schaf
Rund dreissig Jahre nach dem Verlust der letzten Tavetscher Schafe, feierten wir „Auferstehung“. Wir wollten uns nicht anmassen, die neue Zucht „Tavetscher“ zu nennen, denn diese waren gegangen. Also nannten wir sie zu Beginn „tavetscherähnlichen Schafe“, ein Begriff, den wir später in „Bündner Oberländer Schafe“ änderten, weil wir auch noch urtümliche Vriner Schafe zur Blutauffrischung mit einfliessen lassen konnten. Das Projekt fand allgemein Anklang, nicht nur bei den ProSpecieRara-Gönnern, sondern auch bei Schaf-Liebhabern. Bis Ende 1988 (also gut vier Jahre nach Projektbeginn) bemühten sich 19 Züchter um 17 Zuchtwidder und 91 Auen, insgesamt einem Herdebuchtotal von 108 Tieren!»


Text von Hans-Peter Grünenfelder erschienen im VEB-Bulletin Winter 2018