Pflanzen Vielfalt mit Verantwortung

In Riehen bei Basel liegt eine der bedeutendsten Beerensammlungen Europas. ProSpecieRara erhält hier über 600 Beerensorten und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Biodiversität – einer, der viel Wissen, Handarbeit und Ausdauer erfordert.

Claudio Niggli, Projektleiter Beeren

Im sanft geschwungenen Moostal ist es ruhig. Nur der Wind ist ein häufiger Begleiter auf der exponierten Anhöhe hinter dem Siedlungsrand. Niemand würde denken, dass sich hier eine der grössten Beerensammlungen Europas versteckt. Nach dem Eintritt in den umzäunten Beerengarten fällt bald der Kontrast zwischen organisierter Struktur und üppiger Vielfalt ins Auge. Im Frühjahr begrüssen uns über den so zahlreichen Beerensträuchern die Blüten von Weinberg-Pfirsich, Quitte und Kirsche in voller Schönheit. Nashornkäfer und Holzbiene imponieren mit ihrer Grösse und glänzenden Ästhetik. Der elegante Garten-Rotschwanz nistet seit vielen Jahren und Hermeline verstecken sich gerne in den Asthaufen. Seltene Kulturbegleiter wie Acker-Hahnenfuss und Breitblättrige Wolfsmilch finden ein Refugium inmitten konventioneller Landwirtschaft. Hier leben kultivierte und wilde Biodiversität eng zusammen.

Verschiedene Kulturen, verschiedene Ansprüche

Die ProSpecieRara-Beerensammlung fand ihre Anfänge gegen Ende der Neunziger Jahre. Heute werden in Riehen 800 Beeren-Herkünfte erhalten, die zu mindestens 620 Sorten gehören. Darunter finden sich verschiedene Johannisbeeren, Stachelbeeren, Jostabeeren, Brombeeren, Himbeeren und Erdbeeren. Die verschiedenen Gruppen und Sorten haben unterschiedliche Kulturanforderungen, was den Sammlungsunterhalt zu einer grossen Herausforderung macht – auch, weil die die meisten alten  Züchtungen nicht an neuartige Krankheiten angepasst sind.  Dazu kommen die standortbedingten Eigenheiten: der humusarme Lössboden im Moostal ist biologisch sehr aktiv und neigt gleichzeitig zu Verschlämmung, wenn er unbewachsen ist. Der Druck durch unerwünschte, dominante Begleitkräuter wie Quecke und Scharbockskraut ist hoch. Jäten wird zwangsläufig zur Dauerbeschäftigung; bei einer Bestückung von 1140 Ribes-Einzelsträuchern, 167 Laufmetern Himbeeren und 179 Beeten Erdbeeren wird die saisonale Handarbeit zur Herkulesaufgabe. Mit Begrünungseinsaaten können wir die Bodenstruktur und das Gleichgewicht in der Krautschicht zwar günstig beeinflussen; die Oberfläche muss aber trotzdem gelegentlich bearbeitet werden, damit die Konkurrenz unter den verschiedenen Pflanzen reguliert wird. Vor Ort produzierter Kompost aus Schnittgut und Mist bringt Nährstoffe und Humus in den Boden und unterstützt die Pflanzengesundheit.

5 9 Beerensammlung Riehen
Rund 620 Beerensorten werden in Riehen erhalten. Diese Johannisbeeren, Stachelbeeren, Jostabeeren, Brombeeren, Himbeeren und Erdbeeren haben unterschiedliche Ansprüche, was den Unterhalt herausfordernd macht.

Klimawandel als zusätzliche Herausforderung

Die Sortenerhaltung im Freiland wird auch mit dem Klimawandel immer schwieriger. Die Hitze- und Trockenperioden werden länger und extremer, die Niederschlagsereignisse intensiver. Nach einem wolkenbruchartigen Regen mussten wir schon einmal Erdbeerpflanzen behutsam wieder freilegen, nachdem sie von einer kleinen Schlammlawine aus dem Nachbarsacker bedeckt worden waren. 

Durch den witterungsbedingten Stress wird die Anfälligkeit der Pflanzen für Krankheiten erhöht. Wenn einzelne Triebe absterben oder ältere Stöcke ganz den Pilzen zum Opfer fallen, müssen wir diese schnellstmöglich ersetzen. Auch die Belastung der Bestände durch Viren nimmt zu. Dem steigenden Umweltdruck können wir nur mit regelmässiger Verjüngung der Pflanzen begegnen – ein enormer Zusatzaufwand. Zur Aufgabe als Muttergarten für die Abgabe an weitere Sammlungen und Beeren-Aktive kommt so der Vermehrungsaufwand aus Eigenbedarf dazu. Die Freilandvermehrungen müssen jedes Jahr angelegt und bis zur Verpflanzung und dem jährlichen Versand gepflegt werden.

5 9 Niggli Frei
Fachsimplen, vermehren und immer wieder auch jäten: die Sammlung hält die Beerenexperten Claudio Niggli und Martin Frei auf Trab.

Refugium für alte Sorten

Die Sammlung dient nicht nur der existenziellen Erhaltung der genetischen Ressourcen als Basis für Züchtung und Ernährung, sondern sie ist auch Forschungsstandort. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um die weltweit am besten dokumentierte Sammlung ihrer Art. Seit 25 Jahren werden jedes Jahr Beschreibungsdaten an den Pflanzen erhoben. Der Merkmalskatalog ist gross, er umfasst allein für die Johannisbeeren 67 Eigenschaften. Diese Charakterisierung dient der Bestimmung der zahlreichen falsch benannten und namenlosen Pflanzenzugängen, aber auch der fortlaufenden Verifikation der etablierten Bestände. Es werden zudem Merkmale erfasst, welche für die Nutzung relevant sind, wie Fruchtqualität und Krankheitsanfälligkeit. Ergänzend werden genetische Fingerabdrücke erstellt und verglichen. Für die Sortenbestimmung sammeln wir fortlaufend Referenzsorten aus Europa und Nordamerika. Insbesondere der intensive Austausch mit der Nationalen Genbank der USA in Corvallis bringt immer wieder neue Erkenntnisse.

Während in anderen Ländern mehr und mehr Beerensammlungen Sparmassnahmen zum Opfer fallen, hat sich ProSpecieRara zum nationalen und internationalen Refugium für alte Sorten etabliert. Damit die Erhaltungsqualität für die zahlreichen Sorten gewährleistet ist und wir allen zusätzlichen Rollen wie der Abgabe von Vermehrungsmaterial an Erhalter:innen und der Erforschung der Sorten gerecht werden können, sind wir dringend auf stetige Unterstützung angewiesen. Die diversen Ansprüche ähneln jenen an einen botanischen Garten, unsere Möglichkeiten und Ressourcen inmitten von Landwirtschaft sind aber viel beschränkter.

5 9 Nashornkäfer
Der Kompost wird in Handarbeit und mit grosser Sorgfalt betrieben, sodass Engerlinge überleben und sich entwickeln können – z.B. zu Nashornkäfern. Auf dem Kompost landet der Strauchschnitt und wird später wieder bei den Beeren eingesetzt.
5 9 Erdbeere Maikönigin
Vor rund 20 Jahren fand Martin Frei* im Briefkasten ein Couvert aus einem Pariser Vorort mit Ausläufern dieser bislang verschollenen, über 150 Jahre alten Erdbeersorte. Zuerst wollte er dem Sortennamen nicht trauen, doch schon im ersten Jahr zeigten sich die ersten typisch rotorangen, kurzkugeligen Früchte und dem durchwegs weissen Fruchtfleisch von himmlischem und erfrischend säuerlichem Geschmack. *Martin Frei ist Beerenexperte und Leiter der Sammlung in Riehen
5 9 Johannisbeere Silvergieters
Diese niederländische Sorte begeistert Claudio Niggli mit ihren säuerlich-süssen Beeren an schön ausgeformten Trauben. Das intensive Aroma erinnert an ein Potpourri von Zitrusschalen, Gewürzen, frischen Kräutern und Feige. Naschobst!

«Wenn du keine Freude daran hast, machst du das nicht.»

Während sich in Riehen die Primärsammlung der ProSpecieRara-Beerensorten befindet, steht im Limbachtal, zwischen Kirchdorf und Noflen im Kanton Bern, die Ribes-Duplikatsammlung. Hier, in «Glauser’s Biobaumschule» mit Blick auf den Niesen, gedeihen über 100 ProSpecieRara-Sorten Stachelbeeren und rote und schwarze Johannisbeeren. Die Glausers haben sich – nebst dem regulären Baumschulbetrieb – vor Jahren der Absicherung von seltenen Sorten verschrieben, im Auftrag des Bundes und in enger Zusammenarbeit mit ProSpecieRara. Die Aufgabe ist erfüllend, doch auch herausfordernd. 

Simone Krüsi: Eure Duplikatsammlung beherbergt eine grosse Vielfalt und sie hat sich über die Jahre hinweg stark entwickelt. Zunächst diente sie der reinen Erhaltung und Zweitabsicherung, mittlerweile sind viele Sorten auch zugänglich für die Bevölkerung. 

Jürg Glauser: Ja, die Sammlung ist sicher professioneller geworden. Dies auch aufgrund der Erkenntnisse, die wir in der täglichen Arbeit damit gewinnen. Früher hatten wir viele Ausfälle durch Mäuse, kamen teils mit Jäten nicht nach. Heute haben wir bessere Strukturen und damit auch eine bessere Pflanzenqualität. Und je besser die Pflanzenqualität, desto mehr kann man vermehren und je mehr man vermehrt, desto grösser ist dann natürlich das Angebot. 

Dieses Jahr haben wir über 40 seltene Sorten, vor allem Johannisbeeren und auch Himbeeren, die man bei uns kaufen kann. 

5 9 Jürg Glauser
Jürg Glauser ist der Sohn der Baumschulgründer und in der Geschäftsleitung des Betriebs.

Ist die Nachfrage bei den Leuten nach seltenen Sorten spürbar? Oder müsst ihr sie aktiv schaffen? 

Die Nachfrage ist da, aber sie ist (noch) klein. Wir weisen die Kund:innen gerne auf die seltenen Sorten hin und versuchen sie für deren Anbau zu begeistern. Gleichzeitig ist uns Transparenz sehr wichtig: Kund:innen, die etwas Unkompliziertes mit viel Ertrag suchen, sind mit seltenen Sorten oft nicht richtig bedient. Auch Überreden bringt in diesem Falle nichts. Hier braucht es unsererseits ein gewisses Gespür, wer sich wofür interessiert und auch eignet. 

Der Anbau mit alten Sorten bringt durchaus Herausforderungen mit sich, ein grosses Thema bei den Stachelbeeren ist die Mehltauanfälligkeit. Wo verortest du die positiven Seiten von seltenen Sorten? 

 Bei den Stachelbeeren ist die Vielfalt enorm bezüglich Geschmack, aber auch bezüglich Farbe: 15 rote Sorten bedeuten fünfzehn verschiedene Rottöne. Die Johannisbeeren machen Freude, weil sie sich in der Regel gut vermehren lassen – was man von den Stachelbeeren nicht wirklich behaupten kann (lacht). Ein gesunder Realismus hilft hier sicher. Und natürlich darf man nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte sehen, sondern auch den kulturhistorischen Hintergrund und die Geschichte, die hinter jeder Sorte steht. 

Wie viel Ideologie ist bei eurer Arbeit dabei? 

Fast ausschliesslich, dafür sind wir bekannt. Es gibt Landwirte, die produzieren Bio aus wirtschaftlichen Gründen. Wir produzieren biologisch aus Überzeugung, das ist tief in uns verankert. Ich sage immer: Wenn du keine Freude an dieser Arbeit hast, dann machst du das nicht. Unser höchstes Gebot ist der Boden. Wir möchten ihn so an die nächste Generation weitergeben, dass er Hummus aufgebaut hat und nicht komplett ausgelaugt ist, sondern dass wir eine Zukunft darin sehen. Zu unserer Philosophie gehört auch die Vielfalt an Sorten und Arten, die zu Stabilität auf Acker und im Garten beitragen: Es fällt nie alles gleichzeitig aus. 

Und wenn wir von Ausfall reden: Natürlich wollen wir, dass alle Pflanzen gut gedeihen. Bei alten Sorten ist das jedoch nicht ganz immer möglich. Doch selbst wenn im ungünstigsten Fall ein Beerenstrauch eingeht, hat das eine gute Seite: Es nisten sich vielleicht Käfer und andere Insekten darin ein – und neuer Lebensraum entsteht. 

5 9 London Market
Die ‘London Market’ ist sehr dankbar in der Vermehrung und hat vor allem aus diesem Grund Jürg Glausers Herz erobert. Sie ist aber auch geschmacklich interessant – säuerlich und intensiv aromatisch. Ihre Beeren sind leuchtend rot, mittelgross und ziemlich fest. Die ‘London Market’, die vor 1830 in England entstanden ist, gilt als robuste Sorte und ihre Früchte eignen sich wunderbar für Konfitüre und Gelees.

Seltene Beeren erwerben

Aktuell stehen in «Glauser’s Biobaumschule» über 40 seltene Sorten Johannisbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren zur Auswahl. www.bioglauser.ch

Begriffsklärung

Herkunft/Akzession: Herkünfte sind erstmals in eine Sammlung aufgenommene Pflanzenzugänge, deren Sortenidentität bekannt oder auch unbekannt ist. Sie bezeichnen genetische Abstammungslinien innerhalb einer Sorte.

Ribes: bezeichnet die Gattung der Johannis- und Stachelbeeren