Pflanzen Was ist mit der ‘Berner Rose’ los?

Die ‘Berner Rose’ gilt als die Schweizer Tomatensorte schlechthin. Trotzdem war erstaunlich wenig über sie bekannt – und es häuften sich die Meldungen, die Sorte habe ihren urpsrünglichen Charakter verloren. Dem ging unsere Tomatenexpertin Michelle Preiswerk auf den Grund. Die Geschichte der ‘Berner Rose’, wie wir sie heute kennen, weist weit über die Sorte selbst hinaus: Sie erzählt davon, wie Sorten sich weiterentwickeln und dass die Sortenerhaltung die Absicherung an verschiedenen Stationen und die Hände von Vielen benötigt.

Von Simone Krüsi, Redaktorin

Es ist ein windstiller, für einen Hochsommertag angenehm kühler Morgen im August. Von aussen deutet nichts auf die Spannung hin, die im Schaugewächshaus im Reusspark in der Luft liegt. Doch Michelle Preiswerk, unsere Bereichsleiterin Wissensvermittlung, ist aufgeregt. Zusammen mit Lisa Cianciarulo, der Leiterin des Schaugewächshauses, und weiteren ProSpecieRara-Kolleg:innen, trifft sie die letzten Vorbereitungen. Rückblickend wird Michelle sagen, es sei der schönste Tag ihrer bisherigen ProSpecieRara-Laufbahn gewesen. Doch jetzt, in diesem Moment und an diesem Morgen hat sie noch ganz andere Sorgen: Werden sie tatsächlich kommen? Wird alles klappen?

Sie, das sind Christian Trojahn und seine Frau Ursula. Trojahns Vater hatte 1946 die Tomatensorte ‘Berner Rose’ gezüchtet. Und heute, knapp 80 Jahre später, soll mittels einer Degustation herausgefunden werden, ob die ‘Berner Rose’ tatsächlich noch die ‘Berner Rose’ ist. Aber der Reihe nach. 

Bekannte Sorte mit unbekannter Geschichte

Wann sie das erste Mal davon gehört hat, kann Michelle nicht mit Sicherheit sagen. Doch in ihrem tomatenaffinen Umfeld häufen sich die Bemerkungen, die ‘Berner Rose’ habe ihren typischen Charakter verloren. Gleichzeitig wird sie von einer ehemaligen Sortenerhalterin aus Deutschland auf die unklare Züchtungsgeschichte dieser Sorte hingewiesen. Michelle beginnt zu recherchieren und stellt fest: Es ist tatsächlich erstaunlich wenig über die ‘Berner Rose’ bekannt. «Die ‘Berner Rose’ ist vielleicht die Schweizer Tomate schlechthin. Es gibt ganz wenige Tomatensorten, die nicht nur hier vertrieben, sondern auch in der Schweiz gezüchtet und dann im Handel geblieben sind», ordnet sie ein. 

5 9 Berner Rose Trojahns
Auf diesen Tag hat Michelle Preiswerk (l.) lange gewartet: Welche ‘Berner Rosen’ werden bei Züchtersohn Christian Trojahn und seiner Frau Erinnerungen wecken?

Sortenwissen zugänglich machen

ProSpecieRara hat die Sorte seit 2002 in Erhaltung – das Saatgut erhielten wir von einer langjährigen Erhalterin; woher sie wiederum die Samen bekommen hatte, ist nicht bekannt. Ebenso wenig der genaue Ursprung der Sorte. «Detailliertes Sortenwissen – zu Herkunft, Anbau, Pflege und typischen Eigenschaften – zu erarbeiten und zugänglich zu machen, ist ein Hauptanliegen von ProSpecieRara», sagt Michelle. «Bei den allein 196 Tomatensorten, die wir in Erhaltung haben, bedeutet das aber einen immensen Aufwand. Und es ist klar, dass nicht alle Sorten gleich gut erforscht sein können.» Im Fall der ‘Berner Rose’ ist Michelles Neugierde unaufhaltsam geweckt. Nach intensiver Recherche in Archiven und im Austausch mit anderen Tomatenexpert:innen gelingt es ihr, den Weg der Traditionssorte nachzuzeichnen. 

Ein Brief mit Folgen

Bremgarten/BE zur Nachkriegszeit. Hier führt Werner Trojahn zusammen mit seiner Frau Rosa die Gärtnerei Lindenweg. 1946 züchtet er eine neue Tomatensorte und lässt sie unter dem Namen ‘Berner Rose’ eintragen. Im Katalog der Saatgutfirma Haubensak von 1948 ist zu lesen: «‘Berner Rose’, Original-Saat, Neuheit, grosse, karminrote, sehr fleischige Tomate.» In den 1950er-Jahren trennen sich Rosa und Werner Trojahn. Rosa führt die Gärtnerei noch eine Weile mit ihrer Mutter weiter. Dann müssen sie Konkurs anmelden. Das Saatgut, auch dasjenige der ‘Berner Rose’, wird der Traditionsgärtnerei Rudolf Roggli AG vermacht. 

Michelle versucht, Nachfahren von Werner Trojahn ausfindig zu machen und verschickt ein Dutzend Briefe. Nur eine Woche später meldet sich Christian Trojahn bei ihr. Er ist der Sohn von Werner Trojahn. «Ich war völlig aus dem Häuschen», lacht sie. Parallel dazu erfährt Michelle, dass die Firma Haubensak bereits im Jahr 1952 – also nur wenige Jahre nach der Sortenanmeldung – Saatgut an die deutsche Genbank IPK Gatersleben abgab. Die Firma Roggli wiederum vermachte Saatgut an die niederländische Genbank. «Diese zwei Herkünfte schienen besonders vielversprechend», erzählt Michelle. «Wir vermuteten, dass sie nahe am Original sein dürften, weil sie kurz nach der Züchtung den Weg in die Genbank fanden.» Ihre Versuche, an Saatgut der zwei Linien zu kommen, scheitern zunächst. Aufgrund des Jordanvirus’ darf die deutsche Genbank kein Saatgut ins Ausland versenden. Doch Michelle gibt nicht auf. Über ein Tomatenforum und eine Frau, die vor einigen Jahren IPK-Saatgut erhalten hatte, hält sie das Saatgut schliesslich in den Händen.

5 9 Rosa Trojahn mit ihrer Mutter Rosa von Bergen vor Tomaten Treibhaus
Rosa Trojahn (l.), die Frau des Züchters der ‘Berner Rose’, mit ihrer Mutter (ebenfalls Rosa) vor dem Tomatentreibhaus. Ob die Frauen zur Namensgebung inspirierten, darüber kann auch Sohn Christian nur mutmassen.

Eine Sorte – zehn Linien

Zurück im Reusspark. Hier sind mittlerweile auch die Trojahns eingetroffen. Und hier hat Lisa Cianciarulo in diesem Jahr zehn verschiedene Herkünfte der ‘Berner Rose’ angebaut. Darunter die ProSpecieRara-Linie, die Roggli- und Haubensak-Linien, auch diejenige von Sativa Rheinau AG, deren ‘Berner Rose’ als Saatgut und Setzlinge beispielsweise im Jumbo zu kaufen sind. Heute sollen sie degustiert und miteinander verglichen werden. Dass alle Linien am selben Standort gewachsen sind, macht ein aussagekräftiges Urteil über ihre Unterschiede möglich.

Auf einem Holztisch, fein säuberlich drapiert und beschriftet, reihen sich Tomate an Tomate. «Wir werden die Sorten zunächst optisch begutachten, von aussen und auch im Querschnitt», erläutert Michelle das Vorgehen. «Danach folgt natürlich der geschmackliche Vergleich. Welche Linien kommen dem, was wir über das Original wissen, am nächsten? Und welche Linien wecken am ehesten Christian Trojahns Kindheitserinnerungen?» 

Tomatenprobe mit Herzklopfen 

Kann man sich an Geschmack erinnern? Für Christian Trojahn ist es ein grosser Moment. «Ich hätte nie gedacht, dass ich mal hier stehe», meint er. «Und es ehrt uns sehr, dass der Züchtung meines Vaters so viel Aufmerksamkeit und Engagement zuteilwird». Trojahn hat eine kolorierte Fotografie aus den 40er-Jahren mitgebracht – darauf zu sehen eine Schüssel gefüllt mit ‘Berner Rosen’. Die an Himbeeren erinnernde Farbe, die runde Form, die langen Kelchblätter. Nur die Risse fehlen, die die Sorte oft ereilen – so zart ist ihre Haut. Wurden für die Fotografie vielleicht nur die unversehrten Exemplare ausgesucht? 

5 9 Berner Rose Fotografie
Einige Linien ähnelten den Früchten auf der kolorierten Fotografie aus den 40er-Jahren stark. Interessanterweise schnitt diejenige Linie, die optisch am nächsten schien, geschmacklich am schlechtesten ab.

So schmeckt das Original

Dann schneidet Michelle die Tomaten auf. Im Innern zeigen sich die typischen Kammern. Linie nach Linie wird probiert und kommentiert. Die Würzigkeit, die Süsse oder Säure, die Zartheit der Haut, die Saftigkeit, das Umami im Abgang. Einige Herkünfte fallen im Vergleich zu anderen ab. «Die Säure muss im Hals zu spüren sein, nicht oben im Gaumen», erinnert sich Ursula Trojahn. «Das ist nicht meine ‘Berner Rose’», ist auch von Christian Trojahn immer wieder zu hören. Zwei Stunden später stehen drei Linien fest, die geschmacklich alle überzeugen und auch laut Trojahns der ursprünglichen ‘Berner Rose’ am nächsten kommen: Die Roggli-, die Haubensak- und die ProSpecieRara-Linie. Sie weisen diejenigen Eigenschaften ausgeprägt auf, die gemäss mündlicher und schriftlicher Überlieferung ‘Berner-Rose-typisch’ sind: ein sehr angenehmes Mundgefühl, eine leichte, erfrischende Säure im Abgang, ein hervorragendes Aroma und eine äusserst zarte Haut. 

Und jetzt? 

«Heute konnten viele neue Erkenntnisse gesammelt werden», konstatiert Philipp Holzherr, Co-Leiter Pflanzen von ProSpecieRara und bei der Degustation ebenfalls anwesend. «Nun geht es darum, das neue Wissen zu konsolidieren. Anschliessend werden wir mit gewissen Produzenten das Gespräch suchen und Anpassungen in die Wege leiten. Das Ziel ist, dass am Ende die Berner-Rose-Linien, die aktuell im Umlauf sind und mit dem ProSpecieRara-Label verkauft werden, wieder die sortentypischen Eigenschaften aufweisen.» Das bedeute aber nicht, dass man in jedem Fall einfach zurück wolle, betont Holzherr. Wenn sich Sorten im Laufe der Zeit verändern, entwickeln sie immer auch neue, vielleicht ebenso wertvolle Eigenschaften, die man nicht verlieren möchte. Und wenn eine Linie zu stark vom Original abweiche – wie das zumindest bei einer der getesteten Berner-Rose-Linien der Fall war – könne es auch zu einer neu definierten Sorte mit ihren ganz eigenen Werten kommen.

Zusammenarbeit als Schlüssel 

Michelle betont die Wichtigkeit der Zusammenarbeit. «Es braucht auf der einen Seite das Netzwerk von Erhalter:innen, das eine Sorte regelmässig anbaut und sie an möglichst vielen Orten am Leben erhält. Doch Erhaltung ist immer auch Selektion. Von welcher Pflanze und an welchem Standort Saatgut geerntet wird, hat einen Einfluss darauf, wie sich eine Sorte weiterentwickelt und allenfalls verändert.» Ergänzend zum Netzwerk brauche es daher auch Genbanken oder Erhaltungsorganisationen wie ProSpecieRara, die den Überblick behielten und die vorhandenen Linien klassieren könnten. So blieben die Linien unter dem originalen Sortennamen auch über die Jahrzehnte mit ihren typischen Eigenschaften erhältlich. «Denn diese Eigenschaften sind es, die den Sortencharakter definieren, sie zu etwas Besonderem machen und sich dadurch in die Herzen der Menschen spielen», meint Michelle und fügt an: «Gerade letzteres ist eine Grundvoraussetzung für ihre langfristige Erhaltung.»                                            

In Michelles Herzen hat sich die ‘Berner Rose’ längst gespielt – je mehr sie über die Sorte erfuhr, desto grösser wurde die Faszination. Auch Christian Trojahn baut die ‘Berner Rose’ bis heute jährlich an. Wo immer er sie entdeckt, an Märkten oder in Gärtnereien, kauft er einen Setzling. Und wer weiss, vielleicht werden die Früchte schon bald wieder noch mehr so schmecken wie diejenigen aus seiner Kindheit. «Dann werde ich sie so geniessen wie damals – ohne Salz, ohne Öl, einfach auf einem Stück Brot – mehr braucht es wahrlich nicht», schwärmt er.

5 9 Berner Rose Degu
Die Degustation der zehn ‘Berner-Rose’-Linien bildete den krönenden Abschluss einer intensiven Spurensuche.

Eine Sorte, mehrere Linien

Eine Sorte verändert sich, weil Pflanzen genetisch nicht völlig stabil sind. Durch Umwelt, natürliche Variation oder menschliche Selektion entstehen bei der Sortenabsicherung an mehreren Standorten im Laufe der Zeit mehrere Linien, die sich genetisch und phänotypisch (im Aussehen/Verhalten) unterscheiden können. Diese Vielfalt ist sogar gewollt, weil sie einer Sorte bessere Überlebenschancen sichert. Und für die Pflanzenzucht ist sie nützlich, um eine breitere züchterische Ausgangsbasis für neue Sorten zur Verfügung zu haben. Weicht eine Linie in der Sortenabsicherung im Laufe der Zeit stark von der ursprünglichen Sorte ab, kann auch eine neue Sorte daraus hervorgehen.