Natursprung oder künstliche Besamung?

Mit der Kuh zum Stier fahren oder den Besamungsdienst auf den Hof bestellen? Was beide Varianten für die Erhaltungszucht bedeuten.

Zweijähriger Evolèner-Natursprungstier. Dank der Stierenhaltung steht mehr verschiedene Genetik zur Verfügung.

Adrienne Stettler

Ein Evolènerstier sorgt im Bernbiet für eine neue Evolènergeneration.

Samendosen von Zuchttieren können im flüssigen Stickstoff über Jahrzehnte gelagert werden.

Mit einer Deckschürze kann vehindert werden, dass der Zuchtbock unkontrolliert Ziegen deckt und ungewollte Inzuchtpaarungen stattfinden. Er kann Dank der Schürze bei seiner Herde bleiben.

Bei der künstlichen Besamung (KB) wird der Kuh vom Besamungstechniker Samen eingesetzt, der vorgängig von guten und gesunden Zuchtstieren gewonnen wurde. Der Kuhbesitzer muss dadurch weder einen Stier halten oder ausleihen noch seine Kuh zu einem Stier bringen. Bei den gefährdeten Rassen wird KB bei Kühen am häufigsten, bei Ziegen eher selten und bei Schafen und Schweinen quasi nicht praktiziert. Beim sogenannten Natursprung, erfolgt die Paarung auf natürlichem Weg zwischen weiblichem und männlichem Zuchttier. Dafür muss ein Stier, Eber, Bock oder Widder gehalten oder ausgeliehen oder das zu verpaarende Weibchen im richtigen Moment zu diesen gebracht werden.

Künstliche Besamung
Die künstliche Besamung ist in der Erhalterszene nicht unumstritten. Mit ihr nimmt man den Kühen einen Teil ihres zwischengeschlechtlichen Sozialkontaktes und man kann durchaus der Meinung sein, dass dies sowohl für den Stier als auch für die Kuh eine wenig würdevolle Sache ist. Dazu kommt, dass es aus der Sicht der Genetik zum Verlust von Genen kommen kann, weil die mit weniger Aufwand verfügbare Genetik von KB-Stieren diejenige von aufwändiger zu haltenden Natursprungstieren verdrängen kann. Ebenfalls heikel ist es, wenn einzelne KB-Stiere besonders gute Eigenschaften vererben und darum überdurchschnittlich stark eingesetzt werden, was ebenfalls zu einer Vereinheitlichung der Genetik führen kann. In den Anfangsjahren von ProSpecieRara war die künstliche Besamung darum ein heisses Eisen.

Die Absamung von Stieren ist eine aufwändige Sache, sie beinhaltet die Beurteilung des Zuchtwertes, die seriöse Untersuchung auf Krankheiten und die Transporte zu und von der Absamungsstation, wo die Samendosen gewonnen, aufbereitet und in flüssigem Stickstoff gelagert werden. Das führte dazu, dass bei den gefährdeten Rassen z.T. über Jahre keine neuen Stiere abgesamt wurden, was für die Erhaltungszucht heikel ist. Einerseits steht damit nur ein Teil des Genpools für KB-Betriebe zur Verfügung und andererseits bremst es den Zuchtfortschritt, da immer wieder auf die Genetik früherer Vatertiere zurückgegriffen werden muss, statt mit Tieren der neuen Generationen zu arbeiten.

Die künstliche Besamung bietet aber auch Chancen. Spezielle, für die Erhaltungszucht interessante Zuchttiere, die nicht mehr oder aber weit entfernt vom Betrieb leben, werden über ihre Samendosen einfacher einsetzbar. Ein Teil der gewonnenen Samendosen kann zudem als Absicherung für Notfälle gelagert gelegt werden (Kryoreserve). Dazu kommt, dass mit einem Angebot an KB-Vatertieren mehr neue Betriebe für die Zucht gewonnen werden können, als wenn nur Natursprung möglich wäre. Betriebe z.B., die nur wenige Kühe halten und sich darum die Haltung eines Stiers nicht lohnt oder Höfe, die für die Stierhaltung keine passende Infrastruktur haben. Aber auch Betriebe, die zu ihrem bestehenden Viehbestand neu mit einer gefährdeten Rasse einsteigen möchten und dafür nicht extra einen zusätzlichen Stier oder Bock dieser Rasse halten können, können dank der künstlichen Besamung Teil der Erhaltung werden.

Durch das Tolerieren der künstlichen Besamung konnten neue aktive Zuchtbetriebe gewonnen werden, was die Bestände der gefährdeten Rinderrassen anwachsen liess. Weil dies die Kernmission von ProSpecieRara ist, hat die Stiftung eine offene Haltung gegenüber der künstlichen Besamung. Wo es möglich ist, fördert sie Natursprungaktivitäten aktiv (z.B. mit Fördermassnahmen für die Aufzucht und den Einsatz von Natursprungstieren im Förderprojekt für die Evolènerrinder 2017-2019).

Natursprung
Der Natursprung ist zum Glück bei gefährdeten Rassen verbreitet. Denn will man kleine Populationen nachhaltig retten, sind möglichst viele, untereinander schwach verwandte Vatertiere gefragt. Darum spielt die dezentrale Vatertierhaltung auf möglichst vielen Betrieben eine immens wichtige Rolle. Wann immer die Möglichkeit besteht, eine eigene Vatertierhaltung umsetzen zu können, ist dies zu realisieren.

Die Rassevereine stehen den Betrieben für Auskünfte bezüglich Haltung und Umgang mit Stieren, Böcken, Widdern und Ebern gerne zur Verfügung. Besuche bei erfahrenen Züchterinnen und Züchtern geben zudem Einblick in die Praxis der Zucht mit Natursprung.

Wo männliche Zuchttiere gehalten werden, siedeln sich neue Tiergruppen an
Ein schöner Nebeneffekt der Vatertierhaltung ist, dass sie oft dazu führt, dass in der näheren Umgebung neue Zuchtbetriebe entstehen. Denn die Möglichkeit, seine Tiere bei einem erfahrenen Züchter decken lassen zu können, ist oft massgebend bei der Wahl der Rasse.

Zusammenarbeit zwischen Züchtern
Wenn Stier-, Widder-, Bock - und Eberhalter bereit sind, ihre Tiere zum Decken auszuleihen oder temporär weibliche Tiere bei sich zum Decken aufzunehmen, dann hilft das der Sache der gefährdeten Rassen. Wichtig dabei ist, die rechtlichen Vorschriften (Transportscheine, korrekte Transportfahrzeuge) und die gesundheitlichen Vorkehrungsmassnahmen (nur gesunde Tiere zusammenbringen) einzuhalten. Empfehlenswert ist auch, sich frühzeitig auf die Suche nach Deckmöglichkeiten für seine Tiere zu machen. So besteht genug Zeit für Vorabklärungen (passen die Tiere von der Genetik her zueinander? Muss evtl. die Gesundheit vom Tierarzt bestätigt werden? Was ist der passende Zeitpunkt, wo alle Beteiligten genügend Zeit haben?, etc.).
Dass man den Kollegen oder die Kollegin, die sich das ganze Jahr hindurch der Pflege der männlichen Zuchttiere annimmt, mit einer fairen Deckprämie vergütet, ist selbstverständlich.